Früher war mehr Luft

Ich bin krank. Nichts Dramatisches, nur eine hartnäckige Erkältung, die sich ganz ohne Wiesn-Besuch eingeschlichen hat. Donnerstag und Freitag habe ich geschlafen, anstatt zu arbeiten, und normalerweise hilft das auch. Heute, an Tag vier, fühle ich mich aber immer noch nicht fit. Der Schlaf ist bescheiden, der Kopf nebelig und die Nase dicht. Ein zäher Schleim scheint es sich auf meinen Bronchien gemütlich zu machen.

Während ich müde und in eine Decke gemummelt auf der Couch versinke, sagt meine Frau plötzlich: „Geh mal raus. Frische Luft tut gut.“ Ich nicke, murmle eine unbestimmte Zustimmung und bleibe sitzen. Der Gedanke, mich anzuziehen und eine Runde zu drehen, fühlt sich an wie ein Tagesprojekt.

In meinem Kopf rumort es. Die Melancholie eines grauen Herbsttages vermischt sich mit einer guten Portion Selbstmitleid. Früher hätte ich keine Aufforderung zum Spaziergang gebraucht. Früher war ich derjenige, der raus wollte. Nach dem Mittagessen habe ich bei meiner Familie eine Verdauungsrunde eingefordert und bin zur Not auch alleine los, wenn niemand mitwollte. Und wenn das nicht ging, dann wenigstens abends noch eine kurze gemeinsame Runde. Es ist eine ganze Weile her, dass sich das wie ein festes Ritual angefühlt hat. In meinen aktuellen Alltag bekomme ich keinen einzigen Spaziergang mehr unter. Es gibt Wochen, da bin ich keine 30 Minuten am Stück an der frischen Luft. Nachdem diese Gedanken durch meinen Kopf gerauscht sind, habe ich, vielleicht etwas trotzig, meine Winterjacke und eine Mütze angezogen und bin losmarschiert.

Ein schmaler Weg führt durch einen von Bäumen gesäumten Wald mit Laub auf dem Boden.

Schwitzend und schnaufend setzte ich einen Fuß vor den anderen, zielstrebig auf der Runde, die ich sonst so oft und so leichtfüßig gegangen bin. Schnell merkte ich, dass meine Kleidung viel zu warm für das Wetter war. Aber da war noch etwas. Mir wurde klar, wie gut es mir eigentlich ging. Gedanken sprudelten plötzlich in meinem Kopf, Kreativität funkelte auf. Dieses Gefühl hatte ich heute schon einmal, als ich meiner Familie eine Tiramisu zubereitete. Und danach, als ich endlich die Geschichte von Maria aufschrieb.

Vier Tage. So lange brauche ich also, um den Kopf von allem freizubekommen, das nach Arbeit riecht. Vier Tage, bis Muße und Kreativität wieder einkehren. Jetzt verstehe ich auch, warum mir ein Wochenende oft nicht zur Erholung reicht. Ich weiß nicht, ob ich damit alleine bin, aber ich fühle mich am Montag selten wirklich erholt und dachte immer, ich müsste noch ein paar Tage dranhängen. Vielleicht ein Zeichen des Älterwerdens? Mehr Wochenende geht natürlich nicht. Man hat ja Verantwortung und Verpflichtungen, die sich in meinem Kalender als lückenlose Termine zeigen.

Während ich so gehe, fällt mir ein, dass ich vor einigen Jahren sogar draußen gearbeitet habe, mit Headset im Ohr. Ich habe mir das Recht herausgenommen, bei manchen Terminen nicht auf einen Bildschirm starren zu müssen und trotzdem ein aktives Gespräch zu führen. Einige Termine habe ich sogar extra so gelegt, dass sie in einen kleinen Spaziergang passten. Das hat sich immer gut angefühlt. Frische Luft, Bewegung und trotzdem etwas geschafft.

Heute sitze ich von morgens bis abends im Keller, in Meetings. Back-to-back, wie man so schön sagt. Mittagspausen gibt es selten, einen Spaziergang schon gar nicht. Wenn ich im Büro bin, ist es dasselbe in Grün: Ich bin zwar dort, aber nicht wirklich anwesend. Statt Gesprächen an der Kaffeemaschine führe ich Remote-Calls mit Leuten, die manchmal sogar im selben Gebäude sitzen, nur eben in einem anderen Raum. Der Kalender ist voll, der Kopf auch.

Ein schlauer Mensch hat mal gesagt, der erste Schritt zur Veränderung sei die Erkenntnis. Ich glaube, da bin ich heute angekommen. Ich habe erkannt, was mir fehlt und was mir guttut. Jetzt geht es an die aktive Veränderung. Denn auch das höre ich immer wieder, von der anderen Seite des Tisches: Du bist der Einzige, der etwas verändern kann.

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