Marias Tiramisu

Ich muss etwas gestehen: Ich bin ein unerträglicher Tiramisu-Snob. Es ist ein Fluch. Ich kann kein Tiramisu in einem Restaurant bestellen, es geht einfach nicht. Aber wenn jemand am Tisch eines hat, muss ich probieren. Und dann passiert es, jedes einzelne Mal. Der Löffel berührt meine Zunge, und noch bevor ich schlucke, platzt es aus mir heraus: Das kann ich besser!

Und damit beginnt der Teufelskreis von vorn. Immer wieder.

Diese Obsession hat einen Namen: Maria. Ihre Geschichte beginnt vor vielen Jahren, im Büro meines allerersten Arbeitgebers. Einmal im Jahr, zu ihrem Geburtstag, brachte unsere italienische Kollegin ihr Tiramisu mit. Ich spreche hier nicht von einer kleinen Auflaufform. Ich spreche von einem cremigen Berg der Glückseligkeit in Industriegröße.

Mein Glück (oder Pech?) war, dass ich damals ohne Frühstück und meist auch ohne Mittagessen erst am Nachmittag richtig Hunger bekam. Das in rauen Mengen vorhandene Tiramisu stand also stundenlang da, und ich musste mich nicht beeilen. In dieser Zeit vollzog es eine herrliche Transformation. Die Kälte des Kühlschranks hatte sich verflüchtigt und einer lauwarmen, cremigen Köstlichkeit Platz gemacht, die beim Eintauchen des Löffels fast von selbst auf den Teller floss. Es war ein göttlicher Traum.

Fünfzehn Jahre habe ich um ihr Rezept gebettelt. Fünfzehn Jahre lang! An ihrem letzten Arbeitstag war es dann so weit. Es gab natürlich Tiramisu und dazu einen Stapel ausgedruckter Zettel mit “Marias Tiramisu”. Endlich! Der Schlüssel zum Himmel in meinen Händen!

Später folgte die Ernüchterung: Es war, mehr oder weniger, ein ganz normales Tiramisu-Rezept. Und da dämmerte es mir. Das Geheimnis war keine Zutat. Das Geheimnis war Zeit. Die pure, simple Magie des Wartens.

Diese Erfahrung hat mich für immer ruiniert. Ich bin jetzt der Typ, der im Restaurant den Kopf schüttelt und über “wässrige Löffelbiskuits” schimpft. Der Typ, der mit seiner Prahlerei den Kreislauf in Gang setzt, nur um dann irgendwann Tiramisu zu machen und in die glücklichen Gesichter der anderen zu blicken. Alle lieben es. Alle sind glücklich. Nur ich nicht.

Ich sitze vor meiner eigenen Kreation und führe einen stillen Krieg gegen meine Familie. Während sie gierig die Auflaufform leeren, starre ich auf die Creme und warte. Ich warte darauf, dass sie fließt, dass sie diesen magischen Zustand des perfekten Zerfallens erreicht. Es ist ein Wettlauf gegen hungrige Mäuler, den ich jedes Mal verliere.

Ein Stück Tiramisu auf einem Teller neben einer großen Tasse Kaffee und einer Schale mit mehr Tiramisu stehen auf einem Holztisch.

Und so bin ich wohl dazu verdammt, auf ewig dem Geist von Marias perfektem, schlonzigem Tiramisu nachzujagen. Jeder weitere Versuch dient eigentlich nur dazu, diese eine Erinnerung einzufangen. Auch wenn diese Suche bisher vergeblich war, mache ich auf dem Weg dorthin eine Menge anderer Leute glücklich. In diesem Sinne lasst es euch schmecken.

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